Interview mit Elke Kleuren‑Schryvers zu 30 Jahren APH

Frau Dr. Kleuren-Schryvers, in diesem Jahr blickt die „Aktion pro Humanität“, inzwischen ja eine Stiftung, auf drei Jahrzehnte humanitäre Arbeit zurück. Ein Grund zum Feiern?

Ja und ein bedingtes Nein. Ein Grund zu feiern, ja unbedingt. Es gilt eine unglaubliche Dankbarkeit und das Wahrnehmen dürfen von unzähligen genialen Fügungen im Laufe dieser 30 Jahre zu reflektieren. Dankbarkeit für die Begegnung mit vielen beeindruckenden und bereichernden Menschen – hier wie in unseren Einsatzländern. Mit anfänglich fremden Religionen und Kulturen. Der Imam, der beim ersten Besuch im Niger plötzlich morgens früh – wie neben meinem Bett stehend – zum Gebet ruft. Aber auch Voodoo, der Glaube an Götter, Geister und Ahnen. Fremde Kulturen taten sich auf.

Großer Respekt, tiefe Dankbarkeit auch für so viele, über drei Jahrzehnte treusorgende Spenderinnen und Spender, die Mitmenschlichkeit wirklich praktizieren. Bewunderung in besonderer Weise für junge Menschen, als ProjektleiterIn in das kleine, jedoch gänzlich unbekannte, subtropisch feuchte und heiße westafrikanischen Land zu reisen und dort für zwei Jahre mindestens zu leben und zu arbeiten. Oftmals blieben sie deutlich länger.

Und dann ist die Hochachtung vor einem starken ehrenamtlichen Team in der Stiftung (Vorstand und Kuratorium), das sich gerade im letzten Jahr auch deutlich verjüngen konnte! Und für ein absolut einsatzfreudiges und kompetentes, multidisziplinäres Projekt Einsatzteam Team aus Ärzten/Ärztinnen unterschiedlicher Disziplinen, Krankenschwestern/Krankenpflegern, Unternehmern, Technikern, Handwerkern, Journalisten, Mulitmediaexperten etc., die seit mehr als einem Jahrzehnt – selbstfinanziert – mit uns nach Benin reisen, um das Projekt zu stärken, weiterzuentwickeln.

Schließlich gibt es vor Ort noch ein inzwischen weitestgehend eigenständiges Team von Mitarbeitenden, die zusammen mit unserer ehemaligen Projektleiterin und heutigen Consultant, Helene Bassalé, das Projekt im Alltag lenken und den Dienst vor Ort tun, direkt bei den Menschen. Das war wirklich ein langer Weg der Installation, der immer noch nicht abgeschlossen ist.

Einen Grund, nicht zu feiern, mag man vielleicht sehen in der aktuellen Entwicklung unserer Welt, in den Zerüttungen und in den zum Teil infernalen, apokalyptischen Szenarien unserer Zeit. Doch wir im Team der Stiftung APH denken und fühlen, dass uns die Gemeinschaft mit allen, die mitgewirkt haben und mitwirken wollen, das einander Begegnen, sich austauschen, inspiriert werden, Kraft und Halt gibt, in diesen Zeiten mutig und bestärkt weiterzugehen.

Sie arbeiten inzwischen mit vielen Projektpartnern in mehreren Ländern zusammen…

„… und führen, wohin du nicht willst…“ Ein Satz aus der Bibel. Ein Gedanke, den meine humanitären Zieheltern, Christel und Dr. Rupert Neudeck/CAP ANAMUR, so ähnlich auch gespürt haben. Das hat sich entwickelt. So kam es im Jahr 2005 zu unserer Zusammenarbeit mit den Menschen im Niger. Bis heute trägt diese Verbindung, die als Akuthilfe in einer schweren Hungersnot im Niger begann. Wir lernten die Menschen dort kennen. Erfuhren, was es heißt: Es gibt keine Fremden, nur Freunde, die du noch nicht kennst. Bis heute trägt uns alle eine Freundschaft zu Erzbischof Laurent Lompo, der damals noch Generalvikar in Niamey war.

Und die Sorge um den Hunger der Menschen, der durch den Terror in der Region weiter und immer wieder massiv fortbesteht, kann und darf doch nicht unbeachtet bleiben. Dann kam Syrien hinzu, die Seenotrettung auf dem Mittelmeer mit MOAS, Lesbos, Lampedusa als Flüchtlingsankünfte an unseren EU-Außengrenzen. Die Ukraine, das Heilige Land – aktuell mit medizinischer Hilfe vor allem in für die Menschen in Gaza, im Westjordanland… Und immer

wieder sind es die Menschen, die einem begegnen, die Großartiges leisten in schwierigsten Situationen, die unsere Partner werden. Wie Erzbischof Jacques Mourad in Homs oder Anton Asfar mit Caritas Jerusalem in Gaza, Schwester Hildegard im Beit Emmaus, Schwester Franziska in der Friedensschule der Salvatorianerinnen in Nazareth…

Angefangen aber hat alles in Benin, in Westafrika. Einem kleinen Land zwischen Togo und Nigeria, das international nicht besonders auffällt. Wie sind Sie denn ausgerechnet dort gelandet?

Ganz unspektakulär: durch die Lektüre eines Spiegel-Artikels mit der Schlagzeile: „Benin. Das erste schwarze Perestroika-Land“. Das Land, das beschrieben wurde, war gerade ziemlich friedlich durch die Regie eines einheimischen Bischofs vom Kommunismus zur Demokratisierung gekommen. Es flogen einem keine Kugeln oder gar Bomben um die Ohren. Mein verstorbener Herbert Schryvers und ich trauten uns zu, dort Entwicklungshilfe zu beginnen. Dann ging alles relativ zügig. Kontakt zu Rupert Neudeck, der ja eigentlich mit CAP ANAMUR Krisen- und Katastrophenhelfer war. Wir dachten jedoch mehr an eine Langzeitentwicklungsförderung im medizinischen Sektor, also eine Krankenstation oder Ähnliches. Wir durften die Sektion Niederrhein des Komitee CAP ANAMUR werden. Wir suchten den Kontakt zu Akin Fatoyinbo, Weltbankmitarbeiter in Benin und einer der beiden Journalisten, die den Spiegel-Artikel geschrieben hatten. Er stellte sich sofort an unsere Seite, besuchte uns in Kervenheim und dann gab es im Januar 1994 die erste Reise nach Benin. Im Sommer 1995 konnte das Centre Medical Gohomey eröffnet werden.

Wie sah das denn vor 30 Jahren aus? Das APH-Projekt liegt ja mitten im Busch, fernab von jeglichem europäischen Lebensstandard…

Es war unfassbar für mich. Eine Reise zurück um mindestens 200 Jahre. Ich war und bin eher ein ängstlicher, bedenklicher Mensch und das, was ich dort sah, erregte zwei spontane Gefühle in mir als gerade relativ frisch niedergelassene, wohlbehütete und rückversicherte Hausärztin in Kevelaer-Kervenheim: Incroiable! Unglaublich! Unter welchen Bedingungen, Menschen auf unserer Welt leben, erkranken und meist ohne Chance sterben. Wie Menschen kurz vor der Wende zum dritten Jahrtausend in anderen Regionen der Erde ihr Leben fristen. Lehmhütten, keine Wasser- oder Stromversorgung, keine sanitären Anlagen, Lehmöfen vor den Hütten zum Kochen, Menschen nur spärlich bekleidet, barfuß zumeist – auch bei der Feldarbeit.

Die zweite Empfindung: Es brauchte keine lange Standort-Recherche. In Benin konnte man an jeder Ecke beginnen, etwas zu tun für die Basisgesundheitsversorgung der Menschen. Die Lebenserwartung der Menschen in Benin lag damals bei etwa bei 45-50 Jahren.

Und heute?

Um mit dem letzten zu beginnen: Die Lebenserwartung der Menschen ist gestiegen in Benin: sie liegt inzwischen bei 60-ca 65 Jahren. Und es hat sich vieles mehr entwickelt. Es gibt Strom und Wasser aus dem Netz im heutigen Krankenhaus „Hospital humanitaire APH“ in Gohomey. Auch die umliegenden Dörfer partizipieren vom Stromnetz. Es gibt nach einfachsten Anfängen der Behandlungsmöglichkeiten seit 2015 durch eine phantastische und unglaublich großherzige Spende von Bernd Zevens aus Kleve einen Operationscontainer im Krankenhaus, eine Röntgenanlage und ein im letzten Jahr baulich komplett renovierter alter Gebäudeanteil des Krankenhauses, der nun als Notaufnahme/ Notfallraum fungiert.

Die Menschen in der absolut ländlichen Region Couffo, ca. 160 Kilometer von der Wirtschaftsmetropole Cotonou entfernt, sagten von diesem OP-Container, dass er wie ein ballon d`oxygen sei für die ganze weite Region, also ein großer Ballon gefüllt mit Sauerstoff. Dr. Johannes Kohler, Chefarzt der Chirurgie im Xantener Krankenhaus zu dieser Zeit, half uns, dieses

wunderbare „Geschenk“ auch fachlich hochkompetent in die Gänge zu bringen. 120 Mitarbeitende stehen aktuell in Lohn und Brot unseres Krankenhauses, das sich aktuell zu mehr als 90 Prozent selbst finanziert. 100 Betten hat das Hospital inzwischen, das bald noch einen Untertitel als Namen bekommen soll: Maison de consolation et espoir. Haus des Trostes und der Hoffnung. Das passt zur kleinen Gnadenkapelle im Zentrum des Hospitals, die seit 2016 eine Kopie des Kevelaerer Gnadenbildes beherbergt.

Und wie wird das alles finanziert?

Weitestgehend finanziert sich das Hospital-Projekt bereits selbst. Löhne, Medikamente, medizinische Verbrauchsmaterialien können unabhängig von Deutschland gezahlt werden. Die Beträge für die Behandlungen sind immer noch sehr klein. Eine Blinddarm-OP kostet etwa 60 Euro. Eine mehrtägige Malariatherapie mit Infusionen für Kinder 23 Euro, für Erwachsene 35 Euro. Eine ärztliche Vorstellung wird mit drei Euro berechnet…

Alles kleine Beträge, doch wenn der gesetzliche Mindestlohn in Benin aktuell pro Monat (!) gerade `mal ca. 75 Euro beträgt, weiß man schnell, dass jede Erkrankung eines Familienmitgliedes die Menschen – inklusive der erkrankten Person – ganz schnell an die Grenzen bringt. Diese Wirtschaftlichkeit des Zentrums wird entscheidend positiv mitbeeinflusst durch die Kaiserschnittentbindungen im OP Container, die inzwischen vom beninischen Staat finanziert bzw. rückvergütet werden. Ebenso erhalten die über 1000 Aidspatienten, die im APH- Krankenhaus versorgt werden (Labordiagnostiken, Medikamente) vom Staat ihre Aidsmedikamente kostenlos über die Hilfe der Amerikaner, US-Aid. Bisher. Doch die aktuellen Entwicklungen zeigen überall in Afrika das Ende dieser überlebenswichtigen Hilfe. Noch springt der beninische Staat ein, doch wie lange noch? Die Menschen in Benin allein können diese lebenslänglich erforderlichen Mehrfachtherapien nicht bezahlen.

Soziale Hilfe für diese Patienten z.B. (z.B. für Nahrungsmittel), die Versorgung von über 80 Waisenkindern, ein Schülerhilfeprojekt für mehrere hundert Kinder, ein Sozialfond für Menschen, dies sich medizinische Hilfe nicht leisten können – das alles sind und bleiben Aufgaben von APH Deutschland.

Benin ist ja inzwischen nur eines von mehreren Einsatzländern. Wächst einem das nicht langsam über den Kopf? Sie sind ja nur eine kleine Organisation mit kleinem ehrenamtlichen Team?

Man könnte sagen, ja, wir kommen mit unserem Einsatz hier in vollständig ehrenamtlichen Engagement an unsere Grenzen. Und vielleicht auch mit der Spendenbereitschaft der Menschen, die gerade vor den vielen Krisen oft resignieren, verständlicherweise. Doch wenn wir dann alle auf die Leistungen und das unglaubliche Engagement all unserer Projektpartner in der Welt schauen, die unter ganz anderen Bedingungen (Terror, Krieg, Hunger, erbarmungslose Hitze oder Kälte agieren, dann sind wir der Meinung, dass da wohl auch für uns alle noch Luft nach oben ist, sein muss.

Gibt es Ereignisse, Schicksale, Situationen, die Ihnen in besonderer Erinnerung geblieben sind?

Es gibt sehr, sehr viele Begegnungen, Ereignisse, Gespräche, die da aufblitzen. Am deutlichsten ist mir jedoch die für das gesamte Projekt sehr krisenhafte Entscheidung und Zeit des Beginns

der Aidstherapie in Erinnerung. Wir hatten in Benin noch keine spezifischen Medikamente zur Verfügung. Unser Einsatzgebiet, die Region Mono/Couffo, war im gesamten Land Benin eine Hochrisikozone. Es gab keine Statistiken, keine Erfassung der Kranken. Die traditionellen Heiler in der Region haben wir gefragt, ob sie viele Menschen mit den unterschiedlichen Aidssymptomen hatten. Und sie sagten übereinstimmend: „Beaucoup, beaucoup!“, viele, viele! Das war die Wegweisung , das Signal für uns, dass wir uns um diese Menschen kümmern mussten und sie nicht aus Angst vor Stigmatisierung unseres Krankenhauses „am Wegesrand“ liegen lassen konnten. Die Menschen starben wirklich wie die Fliegen in dieser Zeit.

Kinder verloren ihre Eltern und an vielen Sterbebetten saßen wir immer wieder und die sterbenden Mütter oder Väter hatten nur einen Wunsch: Könnt Ihr Euch bitte um unsere Kinder kümmern! Nehmt sie doch bitte, bitte zu Euch. Das versuchten wir dann zu initiieren mit den Waisenhäusern. Die Menschen hier am Niederrhein verstanden das. Halfen konsequent und engagiert weiter. Therapeutisch konnten wir noch nicht viel tun, aber Hoffnung geben zunächst durch eine immunstärkende, biologische Behandlung unter der Anleitung meines großen medizinischen Vorbildes in Benin, des Arztes, Chirurgen und Mönchs, Frere Florent Priuli.

Dann konnten wir einen weiteren entscheidenden Schritt tun. Gemeinsam mit Prof. Dr. Wolfgang Göhde von der Universität Münster und der action medeor in Tönisvorst konnten wir die erforderliche Medikation und labortechnische Verlaufsdiagnostik bereitstellen. Das war eine unglaubliche Freude! Doch am Tag des Startes in unserer kleinen Krankenstation bremste uns am Morgen per Telefon die amtierende Gesundheitsministerin aus. Unfassbar, Traurigkeit und Wut waren in uns. Doch dann geschah etwas Tolles: zwei deutlich von der Krankheit gezeichnete Frauen aus der Aidsselbsthilfegruppe traten vor und baten uns mit fester Stimme, diesem „Ausbremsen“ nicht Folge zu leisten, sondern mit der Behandlung zu beginnen. In ihrer aller Namen! Wir entschieden uns, das zu versprechen und bereiteten alles für den Start vor. Es folgten Telefonate mit dem beninischen Botschafter, Issa Kpara, der inzwischen ein Freund geworden war. Ich schleuderte ihm meine ganz Verzweiflung entgegen und sagte ihm, dass er nun aus seiner diplomatischen Komfortzone heraus und mit der Gesundheitsministerin um die Menschenleben ringen müsste. Und siehe da, schon fast am Ende unseres Aufenthaltes, rief die Gesundheitsministerin persönlich an und erteilte uns das „Go“.

30 Jahre humanitäre Arbeit – wird das gefeiert?

Ja, in Benin eher klein und keinesfalls opulent. Denn die Not und Armut der Menschen auf dem Land bessert sich in keinster Weise. Viele leiden Hunger. Gemeinsam mit dem Team vor Ort haben wir uns überlegt, dass wir vor allem den erkrankten Menschen in unserem Jubiläumsjahr entgegenkommen wollen. Die Konsultationsgebühr für eine ärztliche Untersuchung wird für einige Wochen halbiert. Gerade dann, wenn die Regenzeit beginnt und viele an Malaria erkranken, hilft das sehr. Das chirurgische Team hat überlegt, dass es eine Reduktion der Operationskosten für die Menschen geben soll.

Am 3. März, hier ist dann Rosenmontag, wird unser neuer Diözesanbischof, Mgr. Roger Anoumou, am Nachmittag an der kleinen Gnadenkapelle inmitten des Krankenhauses einen Festgottesdienst mit vielen einheimischen Weggefährten und unserem dieses Mal12-köpfigen deutschen Team feiern. Hier am Niederrhein wird es am 19. und 20. September 2025 ein sehr besonderes multimediales Festkonzert im Bühnenhaus Kevelaer geben, das wir nur dank der Unterstützung aller Künstlerinnen und Künstler und auch der kostenlosen Bereitstellung des Kevelaerer Bühnenhaus stemmen können. Arrangiert und komponiert wird der musikalische Rückblick von Elmar Lehnen, Basilikaorganist an der Kevelaerer Marienbasilika. Er ist aus diesem Grunde jetzt auch mit uns unterwegs in Benin. Die Sopranistin Annette Gutjahr sang.

2017 bei der Welturaufführung des Musikspiels „Mensch!Maria“ die Soloparts der Maria. Sie hat sich neben vielen anderen großartigen Künstlerinnen und Künstlern bereit erklärt, bei diesen beiden Festkonzerten mit-wirkend zu sein. Helfen und Mitmenschlichkeit kann eben so viele Gesichter haben.